Digitaler Nomade werden – Was ortsunabhängig arbeiten wirklich bedeutet

Digitaler Nomade werden – Was ortsunabhängig arbeiten wirklich bedeutet

Mit einem Event in seiner Facebook Timeline hat alles angefangen. Damals hatte Michael Hörnlimann noch eine Stelle in einer Schweizer Webagentur. Heute arbeitet er komplett ortsunabhängig. Welche Vorteile und Hürden diese Arbeitsweise mit sich bringt und was du für ein Leben als „Digitalnomade“ brauchst, hat uns Michael in einem Interview verraten.

#1 Wie bist du zum ortsunabhängigen Arbeiten gekommen?

Angefangen hat eigentlich alles mit einem sehr inspirierenden Vortrag von Nick Martin („6 Jahre Weltreisen, die geilste Lücke im Lebenslauf“) Ende 2016. Ich arbeitete zu diesem Zeitpunkt bereits mehr als 2 Jahre für eine Webagentur in der Nähe von Zürich. Morgens war ich oft der Erste im Büro und abends der Letzte, der nach Hause ging. Ich dachte mir somit bereits vor dem Vortrag, dass ich etwas ändern möchte. Mir war aber noch nicht genau bewusst, was.

Schlussendlich fand ich dann per Zufall auf Facebook (als ich da noch aktiv war) ein Event in meiner Timeline und oberhalb den Hinweis einer Freundin, dass sie an der Teilnahme „interessiert“ sei. Das Berühmte „vielleicht“ – weder zu- noch absagen. Ich besuchte das Event, sie habe ich dort jedoch nicht gesehen. Das war einer der besten Vorträge, die ich je besucht habe! Meine Mitbewohnerin meinte vor einigen Tagen, dass ich an diesem Abend nach dem Vortrag sehr davon schwärmte und dies unbedingt so für mich umsetzen wollte, sprich Reisen und Arbeiten zu verbinden.

Das war für mich der Startschuss zu mehr Freiheit, höhere Lebensqualität und der Schlüssel zu meiner Zeit und wofür ich diese einsetze.

Ich kannte diese Möglichkeit zuvor logischerweise überhaupt nicht. Mir wäre es nie in den Sinn gekommen, so etwas in Betracht zu ziehen und quasi einen fixen Bürojob auch in einem Café, Coworking Space oder von zu Hause aus zu erledigen. Meine Vorstellung der Arbeitswelt war bis zu diesem Vortrag somit sehr klassisch und es war nie ein Thema, Arbeit nicht in einem Büro mit den immer gleichen Arbeitskollegen von Montag bis Freitag zu erledigen. Doch wer trennt heute Berufs- und Privatleben noch strikt? Ich kenne niemanden.

#2 Was sind für dich die größten Vorteile des Lebens als digitaler Nomade?

Definitiv die Möglichkeit, orts- und zeitunabhängig arbeiten zu können. Ich bin beispielsweise morgens am produktivsten, nachmittags sowie abends eher weniger. Wenn das Wetter also gut ist, arbeite ich so beispielsweise morgens und verbringe den Rest des Tages dann draußen in der Natur. Die Flexibilität ist enorm hoch, genauso wie die Lebensqualität.

Kurz gesagt kann ich mir den Tag von A bis Z selber einteilen, arbeite teilweise auch am Wochenende und dafür mitten in der Woche mal nicht.

#3 Wie findest du passende Unterkünfte und worauf achtest du?

Wichtig ist natürlich, dass es dort selber WLAN hat, ganz klar. Weiter mag ich es, wenn es eine Art Wohngemeinschaftsgefühl gibt, sprich wenn ich mit anderen Menschen zusammenlebe, die ebenfalls ortsunabhängig arbeiten. Dies bieten die meisten Coliving Unternehmen bereits heute an. Gibt es dies jedoch an einem Ort nicht, weiche ich meist auf Airbnb oder Hostels aus, wobei letztere eher für kurze Aufenhalte sinnvoll sind. Sonst wird es auch da dann schnell kostspielig und das Preis-/Leistungsverhältnis passt für mich dann nicht mehr.

michael hoernlimann digital nomad

#4 Und wo siehst du die größten Nachteile und Hürden?

Für mich persönlich ist die Einsamkeit der größte Nachteil. Mein gesamtes Umfeld arbeitet regelmäßig und hat frei an Wochenenden sowie Feiertagen. Ich habe bisher nur sehr wenige Menschen kennenlernen dürfen, welche so flexibel mit ihrer Arbeit sind wie ich das bin. Dann sind die Begegnungen meistens eher oberflächlich. Obwohl die Grundvorstellungen ähnlich sind, zieht es andere dann wieder in andere Himmelsrichtungen, sodass gute Freundschaften nicht einfach realisierbar sind. Hier ist mir dann der reale Kontakt wichtiger, arbeitstechnisch hingegen setze ich voll auf E-Mails, welche persönliche Treffen meist überflüssig machen.

Ein weiterer Punkt, der eher mit dem Business in Zusammenhang steht, sind Kunden, welche eher konventionell denken. So hatte ich es bisher schon zweimal, dass der Grund für eine Nicht-Zusammenarbeit mit mir war, dass ich nicht per Telefon erreichbar bin und keine physischen Treffen möglich seien, wenn ich auf Reisen bin. Das akzeptiere ich dann jeweils ohne weiter nachzufragen, schließlich gibt es fast so viele Webdesigner wie Sand am Meer.

Was für mich ebenfalls eine grosse Herausforderung ist, sind Video Calls, wenn ich mich im Ausland befinde. Stichwort: Zeitzone. Je nach Land, konkret Neuseeland, ist ein solcher Termin für einen Call ziemlich schwierig aufzugleisen, wenn 12 Stunden Zeitunterschied zu Deutschland/Schweiz besteht. Glücklicherweise kommt dies nicht allzu oft vor, dass ich Live Video Calls mit Kunden habe, denn ich versuche in meiner schriftlichen Kommunikation so gut und genau wie möglich zu kommunizieren. Dies beugt Missverständnisse vor und erübrigt meist auch Video Calls. Zudem sind Video Calls meist länger als E-Mails und entweder ich oder der/die gegenüber neigt rasch einmal dazu, vom Thema abzuschweifen.

#5 Wie stehst du zu den Bezeichnungen “digital nomad” oder “Digitalnomade”?

Aus Marketing Sicht benötigt es natürlich einen Begriff, völlig klar. Ich kann mich nur nicht wirklich damit identifizieren, denn ein digitaler Nomade müsste dann ja permanent unterwegs sein. Das bin ich nicht.

Die richtigen Nomaden in der Mongolei haben ihre Tier-Herde und leben sehr bescheiden in einer Jurte. Sie reisen auch sehr langsam. Von den digitalen Nomaden, welche ich persönlich kenne, leben die meisten eher über dem Standard und reisen auch ziemlich schnell, sprich verbringen weniger als 4 Wochen im gleichen Land. Aus diesen Gründen bevorzuge ich es schlicht, den Ausdruck „ortsunabhängig“ zu verwenden.

#6 Welche Länder haben dir bisher zum ortsunabhängigen Arbeiten am besten gefallen und warum?

Bolivien und Portugal. Ersteres, weil ich da in der Gruppe von 12 Menschen in einem Coliving in den Bergen gelebt habe. Mitten in der Natur auf rund 3.300 Meter über dem Meer in einer sehr ruhigen Umgebung. Es war problemlos möglich, joggen oder wandern zu gehen, was mir sehr gefallen hat.

Bei Portugal gefällt mir die Küstenregion sehr gut. Auch da ist die Natur atemberaubend und ich konnte morgens vor der Arbeit im Meer schwimmen gehen, was ein toller Start in den Tag ist.

#7 Wenn ich zeitnah digitaler Nomade werden möchte, welche Dinge sollte ich bedenken?

Meine Empfehlung lautet: Langsam und in kleinen Schritten starten. Die größeren Schritte folgen dann wie von alleine. Wenn also jemand noch klassisch und in Vollzeit im Büro arbeitet, gibt es vielleicht die Möglichkeit des Home-Office. Von da aus kann ich mir dann weiter überlegen, ob ich nicht mal ins örtliche Café oder in die Bibliothek gehen möchte, um zu arbeiten. Je nachdem, ob man es beim Arbeiten eher ganz still mag oder eher lebendiger, wie in einem Café. Weiter ist es natürlich dann auch stark vom Arbeitgeber abhängig (vorausgesetzt, man ist nicht selbständig), inwiefern es möglich ist, in einer anderen Stadt oder gar im Ausland für das Unternehmen zu arbeiten.

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Um als digitaler Nomade Geld verdienen zu können, ist es meist nicht nötig, das Rad neu zu erfinden. Klassische Beispiele sind Grafiker, Social Media, Marketing oder Webdesign. Grundsätzlich ist aus meiner Sicht überall da das Potential vorhanden, wo keine regelmässigen Meetings stattfinden und die Arbeit vorwiegend mit dem Laptop erledigt werden kann.

Einen finanziellen Puffer zu haben, ist natürlich immer von Vorteil. Ich beispielsweise hatte rund 10.000 Euro angespart, bevor ich mich Vollzeit selbständig gemacht habe. Zudem hatte ich zuvor noch eine 6-monatige Übergangsphase, sprich 60% Anstellung bei der Webagentur mit fixen Einkommen und parallel habe ich mein Einzelunternehmen aufgebaut. Das ist super für den Anfang, weil man ja meistens nicht von Tag 1 an profitabel sein kann und administrative Dinge erledigt werden müssen.

Wenn ich mir einen Ort zum Arbeiten aussuche, achte ich darauf, dass dort eine zuverlässige und (mehr oder weniger) schnelle Internetverbindung vorhanden ist. Zudem ist mir wichtig, dass es in der Nähe der Unterkunft eine Einkaufsmöglichkeit für Lebensmittel gibt. In der Unterkunft selber möchte ich Kleider waschen können, denn wenn solche Dinge nicht vorhanden sind, frisst das Zeit, die ich lieber anderweitig investieren möchte. Pluspunkte sind dann noch, dass an diesem Ort entweder Deutsch oder Englisch gesprochen werden, denn so ist es für mich persönlich problemlos möglich, ein tiefgründiges Gespräch zu führen. Das ist meiner Ansicht nach besonders im Ausland sehr wertvoll, wo ich es oft erlebe, dass ich mit fremden Menschen Smalltalk führe bzw. sie mich dann einfach ansprechen und so meistens ein tolles Gespräch entsteht. Dies ist in anderen Sprache halt eher schwieriger.

Ein fester Wohnsitz ist somit nicht nötig, aber man kann natürlich auch mit einem festen Wohnsitz beginnen. Ortsunabhängig arbeiten heißt für mich deshalb auch, dass jeder für sich die beste Form finden soll. Es gibt keine fixen Vorgaben oder Muster, welche eingehalten werden müssen und jeder kann es sich so einrichten, wie es am besten passt.

Vielleicht fragt sich manch einer dann auch: „Wie bekomme ich weiterhin meine Post?“ Eine gute Frage, für die es aber auch eine einfache Antwort gibt.

Ich nutze das Angebot der Schweizerischen Post, meine Briefe einscannen zu lassen. Wenn also ein neuer Brief für mich eintrifft, wird dieser für mich eingescannt und ich erhalte per E-Mail eine Benachrichtigung. Dann kann ich anhand des Umschlags entscheiden, ob ich den Brief einscannen lassen möchte, um den Inhalt zu sehen oder direkt vernichten lassen möchte. Das Angebot der Deutschen Post nennt sich E-POST, siehe hier.

Neben der Post nutze ich folgende weitere Tools, welche mir das ortsunabhängige Arbeiten erleichtern:

  1. NordVPN, um meine Privatsphäre zu schützen, sicher im Web unterwegs zu sein und beispielsweise auch im öffentlichen WLAN (Flughafen etc.) auf Kundenprojekte zuzugreifen oder gar E-Banking-Transaktionen zu erledigen.
  2. Slack, um mit anderen Nomaden, der lokalen WordPress-Community sowie mit Raidboxes zu kommunizieren.
  3. ProtonMail, um verschlüsselte E-Mails mit meiner eigenen Domain versenden zu können. Aus meiner Sicht die beste Alternative zu Gmail, da der Benutzer von der Verschlüsselung nichts mitbekommt und der Prozess im Hintergrund passiert.
  4. Tresorit, um meine Kundendaten sicher und verschlüsselt in der Cloud zu speichern. Hiermit verwalte ich meine Offerten, Rechnungen, führe die Buchhaltung und lege Backups ab.
  5. appear.in, um Video-Calls ganz unkompliziert über den Browser führen zu können.
  6. PDF Expert, um PDF-Dateien bearbeiten und digital signieren zu können. Dies hat mir schon bei machen Angelegenheiten den Gang zur Post gespart, da die digitale Signatur ausreichend war.
  7. 1Password als Passwort-Manager. So ist es einerseits sehr einfach, komplizierte Passwörter zu nutzen und spart andererseits jedes Mal Zeit beim Anmelden bei jeglichen Plattformen und Websites im Browser.

#8 Hat dich das Leben als digitaler Nomade verändert und wenn ja, wie?

Oh ja, auf jeden Fall! Ich bin viel offener geworden und gehe ungeniert auf Menschen zu. Die sich daraus entwickelnden Gespräche sind in den meisten Fällen bereichernd, wofür ich früher so nicht den Mut hatte. Ich bin auch loyaler geworden, insbesondere was andere Kulturen betrifft, da mir dieser Lebensstil erlaubt, diese authentisch und während längerer Zeit kennenzulernen.

#9 Könntest du dir jemals vorstellen, wieder in feste Strukturen (örtlich und beruflich) zurückzukehren?

Momentan ganz ehrlich nicht, nein. Ich vergleiche es gerne mit dem Zugfahren in der 1. Klasse. Wenn du dies mal machst, möchtest auch nur sehr ungerne wieder zurück. Für mich überwiegen die Vorteile ganz klar, weshalb ich auch nicht vorhabe, dies zu ändern. Aus diesem Grund kann ich auch nicht sagen, wie ich mir mein Leben in 5 Jahren vorstelle. Meine Hoffnung ist aber, dann in festen Händen zu sein und jemanden zu finden, der meine Leidenschaft für diese Freiheit und Flexibilität teilt. Schließlich ist geteiltes Glück ja doppeltes Glück.

michael hoernlimann
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Lieber Michael, wir bedanken uns bei dir für das interessante Interview und deine ehrlichen Antworten und verabschieden uns mit einem Gruß in die Schweiz. Wenn ihr noch Fragen zum ortsunabhängigen Arbeiten habt, lasst gerne einen Kommentar da!

Bilder: Michael Hörnlimann

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7 Kommentare zu “Digitaler Nomade werden – Was ortsunabhängig arbeiten wirklich bedeutet

  1. Sehr spannendes Thema. Als ich 2019 mich als Digitaler Nomade selbstständig gemachte habe, wollte ich die Welt bereisen und war in den USA und Asien. Von dort konnte ich wunderbar arbeiten. Inzwischen bin ich auch bedingt durch die Pandemie ein wenig sesshaft geworden und habe auch Mitarbeiter sowie ein eigenes Büro. Doch ich hab mir immer gesagt, dass ich das Gefühl der Freiheit nicht vernachlässigen will und führe mein Business nach eigenen Wünschen ohne Druck und Zwang von außen. Ich denke, man braucht auch einen örtlichen Orientierungsanker, der einen an den Ort festbindet. Dauerhaft zu reißen wäre in meinen Augen auch mit Koordinierungsaufwand und Abstimmungen verbunden.

  2. Hallo Michael, Danke für den Beitrag. Ich lebe in Winterthur und möchte auch digital nomade werden. Ich liebe das Reisen und bin jedes Jahr unterwegs, vorwiegend im asiatischen Raum, Bali ist mein Favorit. Ich arbeite zurzeit noch 100% da ich auf das Einkommen angewiesen bin. Möchte mit einer Clothing line T-shirt, Hoodies, caps ect. etwas aufgleisen. Ist sehr schwer da es viele Angebote gibt. Leider bin ich im Designing nicht stark und suche noch nach einer Lösung. Wie lange hast du benötigt bis du entschieden hast dass du soweit bist und die Koffer gepackt hast mit dem wissen jetzt kann ich auf Sicherheit verzichten und verdiene Geld mit meinem Business?

    1. Hey Karin

      Digitaler Nomade bzw. Nomadin werden möchten sehr viele, weil zuerst die Vorteile ins Auge stechen. Umsetzen tun es dann nur sehr wenige, da oft der Mut fehlt.

      Zu deiner Frage:
      Es gab ehrlich gesagt bei mir nie einen bewussten Entscheid oder einen Moment, als ich wusste, dass ich bereit bin. Den richtigen Moment gibt es nicht, du musst es einfach versuchen (besser heute als morgen, sonst machst du es eventuell nie).

      Sollte es klappen, hast du was gelernt. Wichtig ist aber aus meiner Sicht, dass du dies dann allenfalls nicht als Niederlage ansiehst.
      Falls es jedoch klappt, wirst du überglücklich sein.

      Sicherheit gibt es so oder so nicht – auch nicht mit einem „fixen“ Job. Wichtig ist in einem ersten Schritt, die Komfortzone zu verlassen und so immer mehr zu wagen und kleine Erfolge festzustellen.

      Lieber Gruss
      Michi

  3. SEHR bereichernd!

    Vielleicht ist dein Interview MEINE Initialzündung, diese Hinterkopfsehnsucht als Grafikerin endlich umzusetzen! Vielen Dank! 🙂

  4. Sehr sympatisch und „bevorzuge ich es schlicht, den Ausdruck „ortsunabhängig“ zu verwenden.“ unterschreibe ich glatt. Die Form des Arbeitens sollte noch viel mehr Beachtung finden in diesem sogenannten „digitalen Zeitalter“.

    LG Andreas

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